Pferdefreundliches Reiten ist eine Selbstverständlichkeit – oder sollte es zumindest sein. Für immer mehr Menschen gehört dazu heute auch der Verzicht auf ein Trensengebiss. Aber ist „oben ohne“ denn tatsächlich immer gleich auch „pferdefreundlich“? Wovon hängt pferdefreundliches Reiten ab? Und wozu sind Gebisse überhaupt da? Dr. Britta Schöffmann wagt sich im zehnten Teil ihrer Lehrserie zwischen die Stühle.
Gebissloses Reiten ist im Trend. Das zeigt bereits der Blick ins Internet, wo zum Stichwort „Trensengebisse“ gerade mal knapp 34.000 Einträge via Google ins heimische Wohnzimmer flattern, zum Stichwort „gebisslose Zäumung“ bereits 38.000 und zu „gebisslos reiten“ gar 71.000! In Videos und Kommentaren zu gebisslosem Reiten werden dabei meist die Begriffe „gewaltlos“, „ohne jegliche Kraft“, „aus Liebe zum Pferd“ oder gar „Glück“ verwendet. Gern wird von vehementen Vertretern der Gebisslosigkeit dabei der Eindruck vermittelt oder auch offen ausgesprochen, das Reiten mit Gebiss sei Tierquälerei und würde dem Pferd Schmerzen bereiten. Als „Beweis“ wird dann immer wieder die alte Studie eines amerikanischen Tierarztes herangeführt, der mit seinen Aussagen in dieser Form allerdings bisher eher alleine dasteht. Andere wissenschaftliche Studien sind zu anderen Ergebnissen gekommen. Der alte Spruch ,Fünf Experten, sechs Meinungen‘ scheint also auch hier nicht ganz verkehrt zu sein.
Nur Freizeitreiter? Auf der anderen Seite schütteln die meisten eher klassisch/sportlich orientierten Reiter den Kopf, wenn andere auf Sidepull, Glücksrad, Halsring & Co. unterwegs sind. „Nur was für Freizeitreiter und Hobbyjuckler“, heißt es dann schnell abwertend. Und ein kritischer Blick auf manche so gerittener Pferde zeigt tatsächlich oft suboptimale Bilder von auseinandergefallenen, auf der Vorhand laufenden und spärlich bemuskelten Vierbeinern mit mehr oder weniger durchhängenden Rücken. Doch schon stehen die Befürworter von Gebisslos wieder auf dem Plan und führen Beispiele wie Uta Gräf, Alizée Froment und andere ins Feld – Reiter, deren Pferde ohne Gebiss, teils gar auf Halsring, anspruchsvollste Grand-Prix-Lektionen scheinbar mühelos präsentieren. Der Beweis, dass Gebisse also tatsächlich überflüssig sind? Sicher nicht, denn das, was hier gezeigt wird, ist Dressurreiten auf höchstem Niveau, ein Niveau, das sich die Reiter mit ihren Pferden über Jahre erarbeitet haben – und zwar mit Gebiss.
Zugegeben, es gab tatsächlich Zeiten, als Gebisse mit Absicht dazu da waren, ein Pferd mit Gewalt zu beherrschen. Gedanken über Tierschutz, Lernverhalten von Tieren und ähnliches waren in grauer Vorzeit noch nicht en vogue. Schaut man sich abenteuerlich anmutende Gebisskonstruktionen aus alten Epochen an, kann man kaum glauben, wie so etwas überhaupt ins Pferdemaul gepasst hat. Aber das ist Jahrhunderte her. Mit der Entwicklung der Reiterei hin zur Kunst und mit der damit verbundenen systematischen Formulierung von Lehrkonzepten und -methoden entwickelten sich mit der Zeit eine feinere reiterliche Einwirkung, die Erkenntnis des Zusammenwirkens von Zügel-, Schenkel- und Gewichtshilfen sowie weichere und maulfreundlichere Gebisse. Und auch die aktuelle Wissenschaft beschäftigt sich regelmäßig mit unterschiedlichen Gebissformen im Pferdemaul, untersucht Lage, Druckverhalten, Material und Wirkung und gibt so Herstellern und Reitern wichtige Informationen an die Hand.
Aufs Wie kommt’s an Ob ein Gebiss beim Reiten verwendet wird oder nicht hängt zum einen von der Beherrschung der Reiterhilfen ab, zum anderen aber auch von Faktoren wie Verwendungszweck, Disziplin sowie Exterieur und Temperament eines Pferdes. Reiterhilfen, ganz gleich ob mit oder ohne Gebiss, sind immer nur so fein, effektiv und gut wie der Reiter. So hat die auf Biomechanik spezialisierte US-amerikanische Professorin Hilary Clayton – in einer ebenfalls älteren Studie – bei Druckmessungen zum Bespiel festgestellt, dass der Nasenriemen einer gebisslosen Zäumung doppelt so viel Druck auf den empfindlichen Nasenrücken eines Pferdes ausüben kann wie ein (fehlerhaft) eng verschnallter Nasenriemen bei Verwendung mit Gebiss. Es kommt, wenn es um Pferdefreundlichkeit geht, also nicht unbedingt darauf an, ob, sondern wie mit oder ohne Gebiss geritten wird.
Je nach Art der gebisslosen Zäumung entsteht bei Zügelanzug – und sei er auch nur impulshaft – nämlich nicht nur Druck auf den (ohnehin empfindlichen) Nasenrücken, sondern auch auf die unteren Kieferäste und über Hebelwirkung auch aufs Genick des Pferdes. Sensible Kopfnerven, die auch bei falsch oder zu eng verschnallten Reithalftern beim Reiten mit Gebiss in Mitleidenschaft gezogen werden, könnten auch bei gebissloser Zäumung und unsachgemäßer Einwirkung schmerzhaft gequetscht werden. Das gilt vor allem fürs Reiten auf Knotenhalfter, wie es von manchen praktiziert und propagiert wird. Bestes bzw. traurigstes Beispiel einer extrem scharfen gebisslosen Zäumung ist die klassische iberische Serreta, eine Art Kappzaum mit gezähntem, oft nur notdürftig ummanteltem, schmalem Nasenbügel, der zu tiefen Wunden auf dem Nasenrücken führen kann. Und selbst die Verwendung eines Halsrings, dem vermeintlichen Beweis absoluten Vertrauens zwischen Mensch und Pferd, kann bei falscher Einwirkung problematisch sein. Denn an der unteren Halsseite führen Drosselvene sowie Luft- und Speiseröhre entlang, die bei zu starker Einwirkung ebenso gequetscht werden können wie der Kehlkopf des Pferdes bei ruckartigem und zu hohem Einsatz des Rings.
Überhaupt ist „zu“ ein wichtiges Wörtchen, wenn es um die Frage der Pferdefreundlichkeit geht, ganz gleich ob mit oder ohne Gebiss. Zu viel, zu spät, zu früh, zu wenig, zu hart – das ist es, was schaden kann. In erster Linie ist ja es die Reiterhand, die die Zügeleinwirkung verrichtet und darüber bestimmt, ob diese wohldosiert und damit perfekt ist oder eben nicht. Es lässt sich ein wenig mit einem Messer vergleichen: In der Hand eines Chirurgen kann es Leben retten, in der eines Holzschnitzers ein Kunstwerk hervorbringen, in der eines Fleischers Nahrung portionieren – und in der eines Mörders Leben nehmen. Nicht das Messer ist dafür verantwortlich, sondern der, der es führt.
Wichtig für Anlehnung Und um die Diskussion über „mit“ oder „ohne“ noch ein wenig komplizierter zu machen, muss man sich auch die Frage stellen, was man mit seinem Pferd überhaupt tun möchte. Wer in erster Linie ab und zu gemütlich durch Feld und Wald reiten, gerittene Gelassenheitsprüfungen absolvieren oder zirzensische Showeinlagen präsentieren möchte, für den ist es nicht unbedingt wichtig, ob sich sein Pferd dabei mit gewölbtem Hals und positiv gespannter Oberlinie an die Hand heranschließen lässt oder nicht. Hauptsache das Pferd ist brav und „Lenkung und Bremse“ funktionieren.
Wer aber ein wenig mehr in Richtung Dressur und Muskelaufbau arbeiten will, der wird merken, dass „Anlehnung“ und das Herantreten ans Gebiss, wie es in der klassischen Ausbildung zum Grundgerüst gehört, ein wichtiger Baustein ist beim Erarbeiten von Schwung und Versammlung mit dem Ziel der Entlastung der Vorhand, der Entwicklung von Federkraft und des Erreichens von Durchlässigkeit. „Das geht auch ohne Gebiss“, argumentieren die Gebiss-Gegner. Schaut man sich aber die meisten der ausschließlich so gerittenen Pferde an, entsprechen sie nicht dem Bild eines geschlossenen, federnden und über den Rücken schwingenden Athleten. Ausnahmen a la Gräf, Froment und andere sind immer das Ergebnis einer guten Ausbildung und eines regelmäßigen Trainings mit Gebiss, da die Einwirkung übers Gebiss viel direkter und umgehender ist, vor allem auch wenn es um Nachgiebigkeit im Genick und um Stellung – und damit letztlich auch um die so wichtige korrekte Biegearbeit – geht.
Dabei heißt „mit Gebiss“ arbeiten nicht, dass darüber der Kopf des Pferdes in eine bestimmte Position gezogen werden soll und das Pferd diese dann nur einnimmt, weil es sonst Schmerzen im Maul hätte. Im Gegenteil: Sobald Schmerzen im Spiel sind, läuft in der Ausbildung und beim Reiten was falsch. Es geht vielmehr darum, dass das Pferd das Gebiss akzeptiert und lernt, die darüber gegebenen möglichst feinen Signale der Zügelfäuste zu verstehen und umgehend und absolut zwanglos – letzteres im wahrsten Sinne des Wortes! – umzusetzen. Schlimme Bilder von aufgerissenen Mäulern, blauen Zungen, Maulverletzungen oder abenteuerlichen Mehrfach-Gebiss-Kon-struktionen sind kein Argument gegen die Verwendung von Gebissen, sondern ein Argument gegen schlechtes und grobes Reiten. Das zufriedene Maul des Pferdes ist nämlich eine der Grundforderungen seriöser Ausbildung, wobei sich die Zufriedenheit weder im unbeweglichen und „toten“ Maul noch in wildem Schäumen oder offenem Kauen darstellt, sondern im geschlossenen, leicht „vor sich hin mümmelnden“ Maul mit leichtem Speichelrand an den Lippen.
Gebiss muss passen Ob sich ein Pferd mit seinem Gebiss wohl fühlt, liegt allerdings nicht nur an der reiterlichen Einwirkung, sondern auch den anatomischen Besonderheiten eines jeden Pferdeschädels. Großer oder kleiner Kopf, kurze oder lange Maulspalte, fleischige oder eher schlanke Zunge, flaches oder gewölbtes Gaumendach, diese und ähnliche äußere Gegebenheiten können dazu führen, dass das eine Gebiss fürs eine Pferd perfekt, fürs andere aber total ungeeignet ist. Unterschiedliche Gebissformen, -größen und -dicken tragen dem Rechnung. Letztlich ist es nicht der Reiter, sondern das Pferd, das darüber bestimmt, welches Gebiss es sein soll. Das Gleiche gilt übrigens auch für die unterschiedlichen gebisslosen Zäumungen.
Schöne Ergänzung Man ahnt, das Thema ist vielschichtig. Es ist auf jeden Fall zu begrüßen, gebissloses Reiten als eine schöne Ergänzung zu sehen. In diesem Zusammenhang machen auch Überlegungen, gebisslose Prüfungsangebote eventuell zunächst in der WBO zu verankern, sowie auch die jüngsten Pilotveranstaltungen durchaus Sinn. Wer in der Lage ist, gebisslos gewisse reiterliche Anforderungen harmonisch zu präsentieren, ist auf einem guten Weg. Er sollte aber nicht glauben, auf diesem Weg sein Pferd zu höchstem sportlichen Dressur-Niveau ausbilden zu können. So wie die Liebe zur Musik allein noch keinen guten Musiker macht, so macht die Pferdeliebe allein noch keinen pferdefreundlichen Reiter und auch kein weit ausgebildetes Pferd. Vielmehr gehören dazu Begabung, Hingabe, Fleiß, Wissen, Können – und jahrelange ernsthafte Arbeit.
Hach @Börgi - Du hast einen so tollen Artikel gefunden, dass ich Dir von ganzem Herzen danke, dass Du ihn eingestellt hast!
Ich reite auch gebisslos und bin mir durchaus bewusst, dass auch die "netten und pferdefreundlichen" gebisslosen Zäume kritisch zu betrachten sind. Mir war es wirklich wichtig, keine Hebelfunktion zu benutzen, die aufs Genick und die Kieferäste wirken, aber als ich dann versuchte, mit Lilo ein bisschen Anlehnung zu erarbeiten und er vom Lindel hinterher einen kahlen schwarzen Streifen auf der Nase hatte, schockte mich das sehr. Ich habe sofort ein breites Nasenband gekauft und das auch noch mit Lammfell unterpolstert, um sicher zu gehen, dass ich nie mehr auf seinem Nasenbein "herumsäble".
Inzwischen benutze ich ein Cavemore - die Kombination aus einem Cavecon und einem Babyhackemore, das ich vierzügelig reite. Die Zügel, die an den Anzügen vom Hackemore angeschnallt sind, liegen meistens untätig auf dem Hals - in die greife ich sehr, sehr selten, wenn die Bremse mal nicht über die Stimme funktioniert. Auch die Zügel, die am Cavecon (mit breitem, unterpolsterten Nasenband) befestigt sind, hängen in der Regel durch und geben bestenfalls Impulse am Hals, wenn ich die Richtung wechseln möchte oder werden kurz und impulsartig aufgenommen, um das Angaloppieren einzuleiten - mit langem Hals findet Lilo nicht in den Galopp.
Im Gelände möchte ich auch keine andere Zäumung mehr - auch, weil ich mein Pferd auch mal mit einem Büschel Gras belohnen kann, wenn ich mich besonders über ihn gefreut habe. Er mag die Zäumung auch, denn wenn ich sie ihm hinhalte, steckt er gleich den Kopf rein ... gut, kann auch sein, dass er dann weiß: Keine Arbeit, nur Gelände.
Allerdings reite ich eben, um keinen Druck auf die Nase, das Genick und die Kieferäste zu bringen, fast ausschließlich mit durchhängendem Zügel und merke, dass wenn ich dann nicht wenigstens zwischen nur Gelände mal wieder mit Gebiss und Dressursattel auf dem Platz mit meinem Pferd turne, dass er sich mit der Anlehnung beginnt, schwer zu tun.
Ich will nicht von ihm auf alle anderen Pferde schließen und es wurde ja auch beim Thema Dressurreiten ohne Gebiss glaubhaft dargestellt, dass man ein Pferd durchaus bis Grand Prix gebisslos ausbilden kann.
Ich kann es nicht.
Und wenn ich nun den Artikel lese, hält es die Autorin auch nicht für möglich, weil eine solche Anlehnung, wie wenn sich ein Pferd am Gebiss abstösst, um den Schwung zurück zu schicken, der über die Hinterhand, den aufgewölbten Rücken, das Nackenband ins Maul geschickt wurde - dadurch beginnt die Energie zu schwingen und fließt durchs Pferd.
So stellte sich mir auch immer die Frage: Wohin fließt die Energie oder wie wird sie zurück geschickt, wenn sie sich nicht am Gebiss abstossen kann? Schließlich habe ich festgestellt und der Artikel bestätigt das, dass wenn man mit der gebisslosen Zäumung Druck auf den Nasenrücken gibt (auch wenn das minimal erscheint), das für das Pferd unangenehm ist. Das Abstossen ist also in seiner Effizienz nur mit einem Gebiss zu erreichen und damit ist eine reelle Anlehnung auch nur möglich, wenn sie mit dem Gebiss erarbeitet wurde - dass sie eine Zeitlang mit einem gebisslosen Zaum aufrecht erhalten werden kann, wenn das Pferd lernte, sich zu tragen oder sich vorwarts abwärts zu dehnen, ist durchaus möglich - aber nicht dauerhaft im Sinn der reellen Anlehnung ohne Gebiss zu erhalten.
Insofern freue ich mich über den Artikel, denn er bestätigt meine Meinung
Geh Wege, die noch niemand ging, damit Du Spuren hinterlässt und nicht nur Staub (Antoine de Saint Exupéry)
Ich hab mir jetzt ne Weile überlegt ob ich noch mal was zu dem Thema schreiben soll oder nicht weil ich weder als Gebisslos-Fanatiker wirken noch mich irgendwie in die Nesseln setzen möchte. Aber ich kann's dann doch nicht lassen, ich gehe mit dem Text oben einfach so gar nicht konform. Allerspätestens bei dem Satz "Er sollte aber nicht glauben, auf diesem Weg sein Pferd zu höchstem sportlichen Dressur-Niveau ausbilden zu können. So wie die Liebe zur Musik allein noch keinen guten Musiker macht, so macht die Pferdeliebe allein noch keinen pferdefreundlichen Reiter und auch kein weit ausgebildetes Pferd." dürfte die Einseitigkeit und die suvjektive Einstellung der Autorin zur gebisslosen Reiterei klar werden. Ich verstehe nicht wieso so viele Ausbilder die Möglichkeiten der Ausbildung des Pferdes alleine an der Zäumung ausmachen wo doch eeeeigentlich in jeder Reitweise der Sitz die primäre Hilfe sein sollte. Wie im anderen Thread geschrieben, bin ich kein FN-Reiter sondern komme aus einer anderer Sparte der Reiterei, daher mag ich vielleicht eine andere Auffassung des Begriffes "Anlehnung" haben, aber nichtdestotrotz gibt es genug Reiter die beweisen, dass es eben halt doch durchaus möglich ist ein Pferd bis zur hohen Schule auszubilden ohne jemals überhaupt ein Gebiss genutzt zu haben. Und zum Glück gibt es zumindest in der "klassisch-barocken Sparte" mittlerweile doch immer mehr erfahrene Ausbilder die das, anders als Frau Schöffmann, ganz genau so sehen.
Ich stimme dir da zu Gabi und finde den Artikel auch Recht einseitig. Ich schrieb ja schon im anderen Thread, dass ich der Meinung bin, dass Anlehnung im FN-Sinne und gebissloses Reiten nicht konform gehen. Das heißt aber noch lange nicht, dass man nicht auf anderem Wege, mit einer etwas anderen Zügelführung, das Pferd ebenso hoch ausbilden kann. Insofern finde ich den Artikel ehrlich gesagt auch schlecht recherchiert, wenn er behauptet, alle Pferde, die hohe Lektionen zeigen, seien vorher mit Gebissen ausgebildet worden.
Ich gehe mit Börgi konform: Eine Diskussion lebt vom Austausch verschiedener Meinungen.
Sobald man mir ein Pferd, das nie ein Gebiss trug, durch einen Grand Prix reitet, werde ich meine Meinung auch gerne ändern. Bislang war es aber immer so, dass die Pferde, die so weit kamen, irgendwann eben doch mal mit einem Gebiss im Maul ausgebildet worden. Dass es möglich ist, ein Pferd, das mit einem Gebiss auf dieses Niveau geritten wurde, auch nur mit Halsring durch einen Grand Prix zu reiten, ist mir bewusst, aber ich vergleiche das ein bisschen mit meiner Damensattelreiterei: Mein Trakehner Halbblüter vertrug keine Gerte, aber die ist beim Damensattelreiten unverzichtbar, weil sie den fehlenden Schenkel ersetzt. Also habe ich ihn mit meinem Dressursattel durch die Kür geritten, bis er sie auswendig konnte und dann reichte tatsächlich auch die Zügel- und Gewichtshilfe, um ihn zu "lenken".
Ähnlich war es mit Lilos "Zirkuspiaffe". Die hat er tatsächlich am Halfter gelernt. Aber das war keine reell erarbeitete Lektion, die aus der höchsten Versammlung entstand, sondern eben Zirkus und damit eine Bewegung, auf die ich ihn konditioniert hatte.
Hier sehe ich den Unterschied zwischen der Ausbildung mit einem Gebiss und der gebisslosen Ausbildung: Mit dem Trensengebiss erreite ich die Lektionen, ohne Trensengebiss konditioniere ich ich mein Pferd. Das mag der Grund dafür sein, dass man bei den gebisslos gerittenen Pferden oft ein bisschen das Gefühl hat, dass keine reelle Versammlung zu sehen ist, sondern sie "auseinandergefallen" wirken.
Ich will das auch nicht pauschalisieren, denn wie ich schon schrieb: Es ist nur meine Meinung, die auf meiner eigenen Erfahrung beruht und ich selbst habe auch noch nie versucht, ein rohes Pferd gebisslos bis Grand Prix auszubilden - vielleicht sind die bislang Ungerittenen da empfänglicher, weil sie nie ein Gebiss zwischen den Zähnen hatten und es nicht anders kennen, als gebisslos geritten zu werden. Ähnlich den Westernpferden, die auf Bosal geritten werden.
Aber ich habe es mit Lilo probiert und das war schlicht unmöglich. Im Gelände ist das kein Problem, ihn gebisslos zu reiten, aber da verlange ich nicht die konstante Anlehnung, die ich auf dem Reitplatz brauche, um ein durchlässiges Pferd zu reiten. Vor allem ist Lilo auch auf Stimme konditioniert und wenn ich ihn gebisslos durchparieren will, ersetzt die Stimme meine Zügelhilfe und die Zügel stehen so gut wie nie an.
Mein Experiment auf dem Platz führte lediglich dazu, dass meinem Pferd auf der Nase dann ein Streifen Fell fehlte - und ich schwöre, dass ich mich immer um eine feine Einwirkung bemühe und weder an den Zügeln ziehe, noch mein Pferd mit ihnen zu bremsen versuche. Aber Anlehnung bedeutet eben nicht durchhängender Zügel und Impulsgeben, sondern sondern dass sich das Pferd an der Reiterhand anlehnt - das bedingt eine konstante Zügelverbindung und bei Lilo führt die bei der Dressurarbeit auf dem Platz eben zu abgeriebenem Fell auf der Nase.
Ich habe gestern mit dem Cavecon longiert und den Nasenriemen mit einem Gelpad unterlegt - trotzdem sah man die aufgeriebenen Haare am Nasenrücken meines Pferdes, sodass ich nun wirklich überlege, beim Verwenden der Doppellonge ein Gebiss einzuschnallen, um den Nasenrücken zu schonen.
Nun kann man natürlich anführen, dass auch das Gebiss Druck auf die empfindliche Maulschleimhaut macht, aber ich ziehe nicht am Zügel und mein Pferd reagiert sehr fein auf die Zügelhilfen, während er mit dem Cavecon zum "Büffeln" neigt und ich dann doch mal Gegenhalten muss, wenn er seine flotten 5-Minuten bekommt. Benutze ich für ein ein Trensengebiss, komme ich gar nicht in die Situation gegenhalten zu müssen.
Und last but not least gehören zur Übertragungs des Reiterwunsches ans Pferd die Schenkel-, die Kreuz-, die Gewichts- und die Zügelhilfen. Letztere kann ich nicht so diffenziert geben, wenn ich nur mit Druck auf den Nasenrücken arbeite, denn um da punktgenaue Hilfen zu geben, müsste ich den Nasenriemen so fest verschnallen, dass so eine punktgenaue Hilfe auch ankommt und nicht durch die Bewegung des Nasenriemens undeutlich wird - und ich bin kein Freund vom Festzurren des Nasenriemens.
Dazu kommt, dass die Durchlässigkeit erreicht wird, wenn die Energie des energievoll abfußenden Hinterhufs über das Hinterbein in den aufgewölbten Rücken geschickt wird. Von dort fließt sie ins Nackenband und stösst sich dann am Gebiss ab und wird zurückgeschickt. So entsteht die Schwingung, die eben Grundvoraussetzung für die Durchlässigkeit ist. Für die ist dann aber auch die konstante Anlehnung Voraussetzung und für mich ist es schwer vorstellbar, wie diese Energie zurückgeschickt wird, wenn sie sich nicht am Gebiss abstoßen kann ... theoretisch fließt sie dann ins Nichts. Aber wie entsteht dann die Schwingung?
Ich will gar nicht auf meiner Meinung beharren, aber wenn sich etwas unter Berücksichtigung der Biomechanik nicht logisch und schlüssig erklären lässt, bleibe ich ein Zweifler - vor allem darum, weil ich bislang noch keinen "Gebisslos-Verfechter" kennen lernte, der hier und da nicht auch mal ein Gebiss verwendete.
Und um das vorauszuschicken: Ich reite mein Pferd im Gelände nur gebisslos, aber da sind meine Anforderungen an ihn auch andere, als wenn ich ihn Dressur reite.
Geh Wege, die noch niemand ging, damit Du Spuren hinterlässt und nicht nur Staub (Antoine de Saint Exupéry)
Sabine dann hast du einfach in der "falschen" Sparte gesucht. Ich glaube ich hatte schon in dem anderen Thread erwähnt, dass es viele Ausbilder gibt die rein gebisslos ausbilden, bei den Akademikern ist es vor allem Jossy Reynvoet der bekannt dafür ist seine Pferde rein gebisslos von der Basis bis zur hohen Schule auszubilden. Alternativ dazu lohnt sich auch ein Besuch in der fürstlichen Hofreitschule Bückeburg die ebenfalls immer wieder auf Bosal ausgebildete Pferde in höchsten Lektionen zeigen. Ich nehme seit letzten Jahr auch Unterricht bei Arne Koets, einem ehemaligen Bereiter der Bückeburger Hofreitschule und habe auch mit ihm darüber diskutiert weil ich halt auch mit meinem Jungpferd zu ihm kam das noch nie ein Gebiss im Maul hatte und er teilte mein Unverständnis dafür, dass sich vehement die Meinung hält, dass Pferde für schwere Lektionen ein Gebiss im Maul bräuchten. Ich gehe in der Tat davon aus, dass es ne Sache der Reitweise ist, nur bloß weil's bei der FN nicht funktioniert bedeutet das nicht, dass es in ner anderen Reitweise nicht doch möglich wäre. Eins meiner rein gebisslos ausgebildeten Pferde beginne ich gerade in Piaffe und Passage zu arbeiten und ich stoße allenfalls an Probleme die mit dem Gebäude des Pferdes zusammen hängen, nicht aber an Probleme die von der Zäumung abhängig sind. Wie sagt man so schön "Alle sagten das geht nicht, bis einer kam der das nicht wusste und es einfach tat."
Abgesehen davon, dass sich meine reitelichen Fähigkeiten auf ein solides Grundlevel beschränken (von pi und Pa weit entfernt) scheint es mit trotzdem logisch, dass gewisse körperliche Zusammenhänge ohne Gebiss vielleicht nicht unmöglich, aber doch deutlich schwieriger sind.
Ich hatte irgendwo dazu einen Fachvortag von einer Tierärztin gelesen, der das sehr gut erklärt hat - nur leider finde ich ihn im Moment nicht mehr. Für mich ist auch vom reiterlichen Gefühl her klar : Durch die Gebiß-Zügelverbindung habe ich einen direkten Kontakt zum vorderen Ende der Wirbelsäule, nämlich der Zunge, dem Zungenbein und den Kiefern. Da das Zungenbein direkt an die Wirbelsäule anschließt, habe ich also einen durchgehenden Konnekt von vorne bis hinten. Theoretisch mag diese Verbindung natürlich auch über den Kopf als ganzes funktioneren - wenn das Pferd komplett locker und durchlässig ist, sich nicht im Genick verwirft oder vielleicht die Zähne zusammenbeisst. Speziell auf die Lockerheit des Kiefers (und des Zungenbeins) habe ich ohne Gebiss keine Einwirkungsmöglichkeit - es entgeht mir (aus meiner Sicht) eine Chance, die Lockerheit der Wirbelsäule vorne direkt zu spüren und auch zu beeinflussen. Ich habe das oft bei mir selbst beobachtet : Wenn ich die Zähne zusammenbeiße, wird die ganze Wirbelsäule fest. Und auch als Mensch "beisst" man mal die Zähne zusammen, vielleicht auch rein aus psychischen Befindlichkeiten - zum Besispiel wenn man sich arg konzentriert beim Reiten. Warum also diesen Vorteil des Lösens nicht umgekehrt nutzen ?
Und ohne dass ich hoffentlich gesteinigt werde : Ich habe mir viele Videos von Bückeburg und zugehörigen Reitern angesehen - das ist super schönes Reiten, aber in den meisten Fällen einfach sehr, sehr versammelt mit wenig Zügelkontakt. Einfach eine andere Idee der Reiterei als die der traditionellen FN. Und für mich birgt das die Gefahr, dass Pferde sich zwar stark setzen, der Bauch aber trotzdem durchhängt. Ein Punkt, der mir generell bei einigen Barocken negativ auffällt. Natürlich nicht bei allen !
Ich fühle mich mehr bei der Idee daheim, dass das Pferd mit aufgewölbtem Rücken an den Zügel rantritt und eine konstante, feine Verbindung ist mein Ziel. Nicht der lose Zügel - schließlich möchte ich ja auch darüber Signale senden wie z.B. Stellung oder halbe Paraden zur Versammlung oder zur Vorbereitung auf Tempiwechsel. Das Maß des Kontaktes ist nach meinen Erfahrungen vom Pferd abhängig und kann sehr unterschiedlich sein. Dass man - viel später, wenn das Pferd perfekt am Sitz steht - die Zügel zur Kontrolle überstreichen kann ohne die Verbindung zum Pferd zu verlieren - ist ein Ziel, das glaube ich nur die wenigsten reell erreich. Sollte mir das je gelingen schmeiss ich ne Runde
Im Moment finde ich es sehr schwer, bei meiner Spanierin genau diese konstante Verbindung und das Rantreten zu erreichen. Ihr fällt das Rücken aufwölben schwer, und würde ich sie lassen wie sie will, nimmt sie optisch zwar mit Hals-Kopf eine wunderschöne Haltung ein (am eher losen Zügel), tritt dann aber hinten nicht aktiv unter und auch der Bauch hängt. Der Rücken ist dann nicht wirklich da, er ist fest. Und das merkt man bei ihr als Sitzsofa wirklich nur am Gesamt-Gefühl, das irgendwie "verkürzt" ist. Gut zu sitzen ist die immer ... Deswegen ist - glaube ich - gerade bei den barocken Rassen die Anforderung sehr hoch, echte Rückentätigkeit zu erkennen und auch zu fördern. Ohne Gebiss wäre mir das nicht möglich, da fehlen mir die Fähigkeiten dazu. Unserem Holsteiner fällt das alles viel leichter - reitet man ihn mit konstanter Anlehnung und gleichbleibendem Tempo, dehnt er sich automatisch an die Hand heran. Bei ihm könnte ich mir eher vorstellen, dass das auch ohne Gebiss klappt. Er hat von Natur aus die Gabe, den ganzen Körper zu bewegen und nicht nur die Füße
Ich will gar nicht auf meiner Meinung beharren.....
Doch schon - aber das steht Dir ja auch absolut zu!
Das Problem mit den "man sieht keine FN gerittenen Pferde die gebisslos ausgebildet wurden" liegt ganz einfach in den Regeln und Vorschriften der FN per se. Die Reiter, die strikt nach FN reiten, haben in 95% der Fälle auch den entsprechenden Ehrgeiz und den Wettkampfeifer um Turniere zu bestreiten. Nur da sehen die Regeln der FN zwingend das Vorstellen der Pferde mit Gebiss / Kandare vor. Also wird es wohl auch keinem Reiter oder Trainer, der das Wissen und Können hat, um ein Pferd auf S zu fördern, einfallen, diesen Ausbildungsweg gebisslos durchzuziehen.
Dazu kommt noch daß gebisslos ja nicht gleich gebisslos ist - ich kenne derzeit rund 15 - 20 verschiedene Varianten wie man ein Pferd ohne Gebiss reiten kann und jede hat eine gänzlich andere Einwirkung und einen anderen Sinn und Zweck in der Ausbildung der Pferde und hat auch ein total anderes Handling.
Und diejenigen Reiter, die ihre Pferde nicht nach FN ausbilden und vermutlich durchaus mittels anderen Reitweisen ohne Gebiss im Pferdemaul auch ganz manierliche Ausbildungserfolge zustande bringen, sind noch dazu jene, die vermutlich sehr selten bis gar nie in der Öffentlichkeit zu sehen sind - was aber noch lange nicht heißt, daß es sie nicht gibt
Das Ganze mutet ein wenig nach einer Endlos Grundsatzdiskussion an - wie es sie in Reiterlagern sehr gerne gibt - wie eben z.B. Boxenhaltung vs Offenstall, Bandagieren oder nicht, Eindecken oder nicht, Heu ad lib., Scheren usw... Eine Einigung gibt es in den seltensten Fällen, weil die wenigsten bereit sind, aus ihre Komfort-Schwimmzone in der Mitte der Nudelsuppe den den Rand zu schwimmen und drüber zu schauen
Nur weil es der eine nicht macht oder der andere nicht kennt, ist es trotzdem möglich und nur ganz selten zum Schaden der Pferde. Man kann es nur nicht mit dem bisher Erlernten und Gelebten in Verbindung bringen ohne sich mit seinen jeweiligen Ausbildungsgrundsätzen kritisch auseinanderzusetzen. Und da jeder von uns gute Gründe hat, sein Pferd und sich genau so auszubilden, wie es derjenige für sich und sein Pferd als Richtig ansieht, soll ihm das auch gänzlich unbenommen zugestanden werden. Nur muss man das gleich Recht auch im Gegenzug "dem Anderen" zugestehen
Und @den Beitrag von Sam bezüglich "reeler Ausbildung" will ich auch so weit zustimmen, daß nicht alles Gold ist was öffentlich gezeigt wird - aber das betrifft sowohl z.B. Bückeburg oder sogar die Cadre Noir und die Spanische Hofreitschule in Wien, aber genauso wenig sieht man "reele Reiterei" in der FN Reiterei oder bei den Turnier-Westernreitern oder den Working Equitationern, die man in den höchsten Klassen auf den diversen Wettkampfplätzen beobachten kann
Was mich aber auch stutzig macht @Sabine sind Deine Erfahrungen mit gebissloser Zäumung am Platz. Ich habe ja schon sehr viele Varianten durch und noch einige mehr aus Interesse ausgetestet - aber ausgeschrubberte Haare oder gar Haut nach dem Einsatz einer gebisslosen Zäumung auf dem Reitplatz hatte ich noch nie ( ausgenommen ein spanisches Cavecon mit den berüchtigten Metallzacken trotz Lederunterlage auf einem spanischen Verleihpferd im Urlaub )
Mit "rein gebisslos" happert es ja schon ganz ohne Reiten in dem Moment, wo man ein Rassepferd hat und es auf einer Zuchtschau vorstellt: Sowohl Stuten als auch Hengste müssen dabei auf Trense vorgestellt werden, solange es sich um keine reine Western-Halterklasse handelt.
Und ohne dass ich hoffentlich gesteinigt werde : Ich habe mir viele Videos von Bückeburg und zugehörigen Reitern angesehen - das ist super schönes Reiten, aber in den meisten Fällen einfach sehr, sehr versammelt mit wenig Zügelkontakt. Einfach eine andere Idee der Reiterei als die der traditionellen FN. Und für mich birgt das die Gefahr, dass Pferde sich zwar stark setzen, der Bauch aber trotzdem durchhängt. Ein Punkt, der mir generell bei einigen Barocken negativ auffällt. Natürlich nicht bei allen !
Richtig, es ist eine andere Reitweise, darum ging es mir. Und ich habe Bückeburg als Beispiel gebracht weil ich persönlich vor Ort war, mir alles live angesehen und auch mit Herrn und Frau Krischke persönlich über ihre Pferdeausbildung, ihren Weg und ihre Ziele gesprochen habe. Es ist ein anderer Weg als der Weg der FN, daher spreche ich ganz bewusst nicht davon gebisslos einen Grand Prix zu reiten sondern davon ein Pferd gebisslos bis zu den Lektionen der hohen Schule auszubilden. Und ja, Endziel ist nicht die stetige Verbindung sondern ein Pferd das zu 100% am Sitz in Selbsthaltung ist. Es gibt dazu auch etliche Bilder von Bent Branderup in Piaffe und Passage bei denen es die Zügel einfach auf dem Hals liegen hat und nicht benutzt. Ja die Pferde sind nicht in Anlehnung an der Hand, aber sie zeigen Anlehnung an den Sitz. Unterschiedliche Anforderungen, unterschiedliche Ziele, unterschiedliche Wege die unterschiedliche Möglichkeiten bieten. Ich will hier gar nicht missionieren, ich erwähne es gerne noch mal, ich bin kein Gebisslos-Fanatiker, meinen Spanier reite ich mit Kandare weil das das Einzige ist womit er zufrieden ist, aber ich finde es schade, wenn der andere Weg als nicht möglich deklariert wird, weil das ist er nicht.
Andalusierforum - Das virtuelle Treffen für Liebhaber der Pferde iberischer Rassen
»
Ausbildung
»
Ausbildung allgemein
»
Gebiss oder gebisslos?
Thema drucken
28.01.2017 16:40
Antworten
- aber das steht Dir ja auch absolut zu! 
